Gestern – Heute – Morgen: Perspektiven auf Liechtenstein
Wie die hier versammelten Beiträge zeigen, erweist sich Liechtenstein trotz seiner Kleinheit als komplexes, vielschichtiges soziopolitisches Gebilde, das in Auseinandersetzung mit seinen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und lebensräumlichen Gegebenheiten, aber auch unter dem Einfluss auswärtiger Vorgaben und Vorbilder eine eigene Identität – oder besser: eigene Identitäten – entwickelt hat. Nachstehend werden die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt.
120 Jahre liechtensteinische Staatswerdungsjubiläen, 1899–2019
Der Beitrag von Fabian Frommelt und Christian Frommelt analysiert die drei Jubiläumssequenzen 1899 bis 1919, 1949 bis 1969 und 1999 bis 2019 hinsichtlich sechs geschichtskultureller Dimensionen: der politischen, der religiösen, der kognitiven, der ästhetischen, der ökonomischen und der moralischen Dimension.
Eigenbild und Fremdbild
Unter dem Titel „Eigenbild und Fremdbild“ beschäftigt sich Fabian Frommelt mit der Innen- und der Aussensicht des Landes. Ausgangspunkt ist die aus der Psychologie abgeleitete These, dass die Übereinstimmung von Selbst- und Fremdbild mit einer gefestigten, starke Abweichungen aber mit einer labilen kollektiven Identität einhergehen. Als wesentliche Faktoren des Eigen- und des Fremdbildes Liechtensteins werden die Kleinheit, der Finanzplatz und die Monarchie betrachtet.
Armut und Reichtum
Paul Vogt betrachtet das Thema Armut und Reichtum vor allem im Hinblick auf Verteilungsfragen und Armutsbekämpfung. Eine effektive Armutsbekämpfung erlaubte erst der vom „Wirtschaftswunder“ des 20. Jahrhunderts ermöglichte Aufbau des Sozialstaats, während die diversen historischen Bemühungen kaum Erfolge zeitigten. Verschiedene Hilfswerke weisen darauf hin, dass auch das heutige, reiche Liechtenstein relative, wenn auch kaum sichtbare Armut kenne, während es nach offizieller Sichtweise in Liechtenstein keine Armut gibt.
Frau und Mann
Die historische Entwicklung der Geschlechterrollen und deren Auswirkungen auf Familie und Arbeitswelt stehen im Zentrum der Überlegungen von Claudia Heeb-Fleck. Die Auflösung der traditionellen Rollenverständnisse erfolgte in Liechtenstein spät und zögerlich. Ein wichtiger Schritt war die Verankerung des Gleichstellungsprinzips in der Verfassung 1992, für dessen Umsetzung es allerdings noch weiterer Anstrengungen bedürfe.
Jugend und Alter
Wilfried Marxer gibt einen Überblick über die spezifische Situation junger und alter Menschen und deren Zusammenleben in Vergangenheit und Gegenwart. Junge sind wie Alte in politischen Gremien unterrepräsentiert. Während die zivilgesellschaftliche Organisation der Jugend schon früh und breit erfolgte, setzte die Organisation älterer Menschen spät ein. Das Verhältnis zwischen den Generationen wird als gut und entspannt charakterisiert, trotz Indizien für eine bestehende Altersdiskriminierung und trotz der Sorgen der jungen Generation über die mit der demografischen Entwicklung wachsende Belastung durch Altersvorsorge und Altenpflege.
Fürst und Volk
Peter Gilgen spannt einen weiten Bogen über die Entwicklung des Verhältnisses von Fürst und Volk. Die verfassungsmässige Stellung der beiden Seiten, die seit 1921 gemeinsam Träger der Staatsgewalt sind, aber auch deren emotionale Beziehung und deren Konflikte werden von der Entstehung des Fürstentums 1719 bis in die Gegenwart verfolgt und kommentiert. Der Autor verschweigt seine Sicht nicht, wonach der im Revolutionsjahr 1848 einsetzende und über die Konstitutionelle Verfassung von 1862 zur Verfassung von 1921 führende Demokratisierungsprozess durch die jüngste Verfassungsrevision von 2003 gebrochen wurde.
Souveränität und Abhängigkeit
Zur Frage nach dem Verhältnis von Souveränität und Abhängigkeit hält Sieglinde Gstöhl fest, dass Selbstbestimmung über Unabhängigkeit im Sinn formeller Souveränität hinausgehe. „Operationelle Souveränität plus Autonomie“ lautet ihre Formel, gemäss der die effektive rechtliche und politische Handlungsfreiheit eines Staates durch internationale Mitbestimmung gestärkt werden könne, also durch die Teilnahme an kollektiver Entscheidungsfindung. Unter dem Schlagwort der „souveränen Abhängigkeit“ entwirft Gstöhl ein „aussenpolitisches Konzept für Liechtenstein“, welches auf internationale Zusammenarbeit und europäische Integration unter der Voraussetzung angemessener Mitbestimmung abstellt.
Modernität und Tradition
Jürgen Schremser setzt sich mit der liechtensteinischen Vergangenheitspolitik vornehmlich in der Umbruchsphase der 1950er- und 1960er-Jahre auseinander. Der Umgang mit Geschichte war dabei bedeutend mehr von Geschichtsverklärung und Traditionsstiftung geprägt als von einer (quellen- und selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit Vergangenheit. Verdeutlicht wird dies ausser am „Jubelsprech“ des Jubiläumsjahres 2019 vor allem an der bewussten Traditionskonstruktion bei der Feier „150 Jahre Souveränität“ 1956.
Natur und Mensch
Heiner Schlegel unternimmt einen Streifzug durch die Landschaftsgeschichte als Nutzungsgeschichte. Die am liechtensteinischen Rheintalabschnitt vorhandenen ökologischen und landschaftlichen Werte erfuhren in den letzten 300 Jahren einschneidende Veränderungen, die anhand ökologischer Schlüsselgrössen wie Strukturvielfalt, Dynamik, funktionale Beziehungen, Nutzungsintensität oder Zerschneidungsgrad betrachtet werden.
Fremde und Einheimische
Martina Sochin-D’Elia plädiert für eine „Entmigrantisierung Liechtensteins“, also für die Anerkennung von Ein- und Auswanderung als historische Normalität. Sie nimmt die Einsicht der Migrationsforschung auf, dass Migration als inhärenter Bestandteil der Gesellschaft stets eine prägende Dimension politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse war und ist. Unter den Leitfragen „Wer sind wir?“, „Woher kommen wir?“, „Wohin gehen wir?“ hinterfragt Sochin-D’Elia essentialistische, auf Herkunft (Alteingesessenheit) abstellende Konzepte nationaler Identität.
Die Publikation über ist über das Buchzentrum Liechtenstein erhältlich.
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