Wirtschaftsgeschichte

24.01.2019 - Gastkommentar (5)
Gastbeitrag von Christoph Merki │Die Entstehung des Fürstentums Liechtenstein, dessen 300. Geburtstag man dieses Jahr feiert, lässt sich ohne Wirtschaftsgeschichte nicht verstehen. Die Herrschaft Schellenberg und die Grafschaft Vaduz wurden 1699 und 1712 nur deshalb verkauft, weil die vorherigen Besitzer, die Grafen von Hohenems, stark verschuldet waren. Und der Fürst von Liechtenstein konnte die beiden Gebiete nur deshalb erwerben, weil er das dafür nötige Kleingeld besass.

Der Kauf der beiden reichsunmittelbaren Gebiete hatte einen politischen Zweck: Dank ihres neuen Landes erhielten die Liechtenstein 1723 einen ständigen Sitz im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Als dauerndes Mitglied im Reichsfürstenrat gehörte die Dynastie fortan zur Spitzengruppe der Reichsaristokratie und verfügte so über eine herausgehobene Position im europäischen Adel.

Wirtschaft und Politik hängen oft zusammen. So stand der liechtensteinische Staat nach dem Ersten Weltkrieg wegen der europaweiten Wirtschaftskrise und wegen des Zusammenbruchs der österreichischen Kronenwährung vor dem Bankrott. Der Fürst griff damals in die eigene Tasche und stellte 1920 aus privaten Mitteln ein zinsfreies Darlehen in der Höhe von 550 000 Franken zur Verfügung. Dabei behielt er sich allerdings ein Kündigungsrecht vor, und zwar «für den Fall einer eintretenden Änderung der gegenwärtigen staatsrechtlichen Verhältnisse» oder im Klartext: bei einem revolutionären oder antimonarchischen Umsturz. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass sich der Fürst mit seinem Darlehen den Weiterbestand der Monarchie sichern wollte.

Kommerzialisierung der Souveränität
Finanzielle Beziehungen haben nicht nur Auswirkungen auf die Politik, umgekehrt kann auch die Politik Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse haben. So ist die Souveränität Liechtensteins ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. Das heisst: Aus der Tatsache, dass Liechtenstein ein Staat ist, wurde Geld gemacht. Eine Kommerzialisierung der Souveränität fand bei den Finanzeinbürgerungen der 1930er-Jahre statt, aber auch beim Verkauf liechtensteinischer Briefmarken an ausländische Sammler in den 1960er-Jahren oder bei der steuerlichen Bevorzugung ausländisch beherrschter Sitzunternehmen bis 2011.

Der Zusammenhang von Wirtschaft und Politik gilt selbstverständlich auch für die Gegenwart. So entstand die französische Bewegung der Gelbwesten wegen der Benzinsteuern, die Präsident Macron erhöhen wollte. Oder, um ein anderes aktuelles Beispiel zu nennen: Die politische Krise der EU lässt sich ohne die jahrelange Schuldenwirtschaft ihrer Mitgliedsstaaten nicht erklären.

Wie aus jeder Geschichte kann man auch aus der Wirtschaftsgeschichte nie direkt lernen, denn Geschichte wiederholt sich nicht 1 zu 1. So ist die Charttechnik, die künftige Börsenkurse anhand vergangener Kursverläufe vorhersagen will, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Auch liefert die Wirtschaftsgeschichte keine eindeutigen Antworten, sondern immer nur ein Interpretationsangebot, das sich im Laufe der Zeit selbst verändern kann. Es wird zum Beispiel nie möglich sein, den Auslöser der Finanzkrise von 2008 zweifelsfrei und eindeutig festzustellen.

Lehren aus der Wirtschaftsgeschichte
Gleichwohl hat auch die Wirtschaftsgeschichte etwas zu sagen. So gibt es in der Wirtschaftsgeschichte zwar keine Wiederholungen, dafür aber ähnliche Entwicklungen, lehrreiche Analogien und vergleichbare Konstellationen. Auch Trends oder zyklische Entwicklungen lassen sich nur wirtschaftsgeschichtlich verstehen. Schon das Alte Testament kennt den Zyklus von sieben fetten Jahren und sieben mageren Jahren. Zwei «Lehren», welche die Wirtschaftsgeschichte Liechtensteins bereithält, seien zum Schluss vorgestellt. Warum Kryptowährungen in Liechtenstein zurzeit so gehypt werden (man spricht sogar von einer «Krypto-Nation»), kann nur verstehen, wer weiss, wie dem Finanzplatz in den letzten Jahren der goldene Esel (die Sitzunternehmen) abhandengekommen ist und man sich deshalb mit Verve auf alles vielversprechende Neue stürzt. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: So dynamisch, wie sich die liechtensteinische Wirtschaft gerne gibt, ist sie nicht. Vielmehr sind es seit Jahrzehnten dieselben Unternehmen, welche den Grossteil der Beschäftigung und Wertschöpfung in Liechtenstein stellen. Andererseits ist es denkbar, dass es auch in Liechtenstein erfolgreiche Start-ups gibt. Die Wirtschaftsgeschichte kann sie einfach noch nicht erkennen.


Über den Verfasser
Der Historiker Christoph Maria Merki publizierte verschiedene Bücher, darunter eines über die Wirtschaftsgeschichte Liechtensteins im 20. Jahrhundert.
Mit dieser Beitragsreihe möchte das Liechtenstein-Institut die gesellschaftliche Bedeutung der Geschichte und der Geschichtsforschung in ihren verschiedenen Facetten beleuchten. Die inhaltliche Verantwortung für die einzelnen Beiträge liegt jeweils bei den Autorinnen und Autoren.

 

Geschichte wozu? Eine Artikelserie des Liechtenstein-Instituts 

Mit der Beitragsserie „Geschichte wozu?“ möchte das Liechtenstein-Institut die gesellschaftliche Bedeutung der Geschichte der Geschichtsforschung in ihren verschiedenen Facetten. Dieser Gastkommentar erschien im Liechtensteiner Volksblatt vom 24. Januar 2019.