Ein frischer Blick auf die liechtensteinische Verfassung zu ihrem 100. Geburtstag

23.06.2021 - Mitteilung
Das Liechtenstein-Institut nimmt das Jubiläum der Verfassung zum Anlass, sich vertieft mit ihr zu beschäftigen. Am Donnerstag, 17. Juni 2021, lud es deshalb nach Vaduz zu einer Podiumsdiskussion und am Freitag zu einem öffentlichen Kolloquium mit sechs rechtswissenschaftlichen Referaten. Vorausgegangen waren im April und Mai 2021 drei Vorträge von Historikern. Sie hatten die Ausarbeitung der Verfassung im Jahre 1921 und ihre Vorgängerin, die konstitutionelle Verfassung von 1862, beleuchtet.

Obwohl alle Referentinnen und Referenten des Kolloquiums einen verfassungsrechtlichen Hintergrund haben, zeigte sich doch ihr unterschiedlicher Zugang zur Verfassung und ihre je verschiedene Prägung. Diese ist nicht zuletzt davon abhängig, in welcher Rechtsordnung sie sozialisiert worden sind und auf welche Staaten oder Epochen sie beim Vergleichen Bezug nehmen.

Genau diese Fülle an Vergleichsmöglichkeiten und Überlegungen war es denn auch, die den Besucherinnen und Besuchern des Kolloquiums neue Einsichten in die liechtensteinische Verfassung bescherte und weitere Fragen mit auf den Heimweg gab. Viele Aspekte waren sowohl am Donnerstag in der mit Einheimischen bestückten Diskussionsrunde angesprochen worden als auch am Freitag von den auswärtigen Forscherinnen und Forschern. Dies unterstreicht die Offenheit der liechtensteinischen Verfassung und der Personen, die sie im Land in ihrem Berufsalltag umsetzen.

Was gar nicht erst gesagt werden musste, weil es für alle Referierenden unbestritten war: Die liechtensteinische Verfassung muss keinen Vergleich scheuen. Sie erfüllt alle Kriterien einer Verfassung westlicher Tradition. Oder wie es Anna Gamper sagte: Was die liechtensteinische Verfassung einzigartig macht, sind nicht so sehr einzelne Elemente, sondern ihre Kombination.

Unterschiedlicher Zugang zur Verfassung
Der Einladung von Moderator Georges Baur vom Liechtenstein-Institut zur Podiumsdiskussion folgten Peter Bussjäger, Katja Gey, Wilfried Hoop und Daniel F. Seger. Obwohl sie in ihrem Beruf respektive Amt täglich mit dem Recht zu tun haben, unterscheidet sich ihr Blick auf die Verfassung. Peter Bussjäger, Richter des Staatsgerichtshofes und Professor an der Universität Innsbruck, waren zu Beginn seiner Richtertätigkeit zuerst die Unterschiede zum österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz aufgefallen. Dieses wird häufiger revidiert, enthält viel mehr Artikel und ist damit weniger offen als die liechtensteinische Verfassung. Katja Gey betonte nicht zuletzt mit Blick auf die letzte grosse Verfassungsänderung, dass die Verfassung das Zusammenwirken der Staatsorgane verlangt. Während ihre Tätigkeit im Amt für Volkswirtschaft stärker von den Entwicklungen des internationalen Rechts geprägt wird als durch die Verfassung, konstatierte Daniel F. Seger, die Verfassung betrifft die Abgeordneten. In der Tat regelt sie die Wahl und die Kompetenzen der Landtagsmitglieder und das von ihnen zu beachtende Verfahren detailliert. Wie alle anderen staatlichen Organe sind die Abgeordneten zur Respektierung der Grundrechte verpflichtet. Daran anknüpfen konnte Rechtsanwalt Wilfried Hoop. Er sieht die Rolle der Advokatur darin, den Privaten und Unternehmen die Werkzeuge zum Schutz ihrer Rechte zur Verfügung zu stellen.

Gemeinsam konstatierter Aktualisierungsbedarf der Verfassung
Einig waren sich die Podiumsteilnehmenden, dass die Verfassung die aktuellen Herausforderungen wie Schutz der Umwelt und des Klimas sowie das Prinzip der Nachhaltigkeit nicht nennt. Der von 1921 stammende Grundrechtskatalog fokussiert auf die Rechte des Individuums. Je länger desto mehr stellt sich jedoch die Frage, wie weit Rechte Einzelner eingeschränkt werden müssen zum Schutz der Natur und der Gesundheit aller und wie weit der Staat verpflichtet ist, gestaltend einzugreifen.

Keine Einigkeit über die Dringlichkeit einer Neuformulierung der Staatsziele
Auch wenn die Diskutierenden auf dem Podium darin übereinstimmten, dass die Formulierung der Staatsziele und der Grundrechte verstaubt klingt, konnten sie sich auf die Frage von Gesprächsleiter Georges Baur, ob die Verfassung angepasst werden muss, zu keinem deutlichen Ja durchringen. Sie nehmen nämlich keinen Leidensdruck in der Bevölkerung wahr. Entsprechend herrschte auch kein Konsens darüber, wer eine Diskussion über die Ziele des Staates und das Hauptstück über die Staatsaufgaben anstossen sollte.

Der Staatsgerichtshof kann bei der Auslegung der Verfassung gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen. Er orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und an der Lehre im In- und Ausland. Er kann jedoch nur aktiv werden, wenn sich jemand mit einer Beschwerde an ihn wendet. Anders der Gesetzgeber. Er muss nicht warten, bis ein Thema in der Verfassung erwähnt wird, sondern kann neue Aufgaben selber einer Regelung zuführen.

Wunsch nach einer Modernisierung des Verwaltungsverfahrens
Konkreter geäussert wurden vom Podium die Forderung nach einer Modernisierung des LVG, das heisst des Gesetzes, welches das Verwaltungsverfahren regelt, und nach einem allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts. Es würde für die Verfahren der Sozialversicherung gelten, von der AHV bis zur Unfallversicherung. Damit würden die Verfahren vereinfacht und vereinheitlicht. Dies liegt sowohl im Interesse der rechtssuchenden Bürgerinnen und Bürger als auch der Behörden.

Flexibilität ist nötig
Der Vortrag von Bernhard Waldmann, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg im Üechtland, griff am Freitag auf, was am Donnerstag Abend in der Diskussion bereits angeklungen war: Eine Verfassung muss anpassungsfähig sein. Auch wenn sie ausführlich formuliert worden ist, können neue Fragen auftauchen, die eine Auslegung erfordern oder eine Ergänzung des Verfassungstextes verlangen. Auch wenn viele Impulse von internationalen Organisationen und Entwicklungen herrühren, sind es nach wie vor die nationalen Verfassungen, die ein Gesamtsystem vorgeben und für Kohärenz sorgen.

100 Jahre alt, aber nicht unbeweglich
Die am Donnerstag geäusserte Ansicht, dass die liechtensteinische Verfassung Spielräume lässt, gerade im Umgang mit dem europäischen Recht und bei der Entwicklung der Grundrechte, wurde im Vortrag von Anna Gamper, Universitätsprofessorin am Institut für öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der Universität Innsbruck, bestätigt. Ihre Tour d’Horizon schloss Anna Gamper mit der Bezeichnung der liechtensteinischen Verfassung als «alt, aber nicht unbeweglich».

Hilmar Hoch, Präsident des Staatsgerichtshofes, ging in seinem Referat auf den durch die Verfassung von 1921 geschaffenen Staatsgerichtshof ein. Nicht nur die Verfassung von 1921 fand Anregungen im österreichischen und schweizerischen Verfassungsrecht, sondern auch in der Organisation und dem Verfahren vor dem Staatsgerichtshof zeigen sich Elemente aus beiden Nachbarstaaten. Während die Ausgestaltung des StGH als spezialisiertes Verfassungsgericht starke Ähnlichkeiten mit dem von Hans Kelsen geprägten österreichischen Verfassungsgerichtshof aufweist, sind Beschwerden an den StGH wegen der Verletzung verfassungsmässiger Rechte anders als in Österreich seit Anbeginn gegenüber den Gerichtsurteilen aus allen Bereichen zulässig. Dies zeigt, dass den Vätern der Verfassung (Wilhelm Beck und Josef Peer) sowie des Staatsgerichtshofgesetzes (Wilhelm Beck und Emil Beck) auch die staatsrechtliche Beschwerde an das 1874 geschaffene schweizerische Bundesgericht als Vorbild diente.

Konkrete Umsetzung ist nötig
Der Blick von Elisabeth Holzleithner, Inhaberin der Professur für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies an der Universität Wien, war an der Formulierung «Freiheit und Frieden» in Artikel 1 der Verfassung hängen geblieben. Das Ziel «Frieden und Freiheit» griff übrigens auch Patricia Schiess, Forschungsleiterin Recht am Liechtenstein-Institut, im letzten Referat des Tages auf. Im Zusammenhang mit dem Postulat der Gleichheit betonte Elisabeth Holzleithner, dass die Geschichte keine Richtung kennt und keine Vorgaben macht. Verfassungen eröffnen aber Perspektiven. Damit Diskriminierungen erkannt und bekämpft werden können, braucht es jedoch mehr als einen schön formulierten Verfassungsartikel.

Monarchie und Demokratie – Vereinigung von Alt und Jung
Luc Heuschling, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Luxemburg, brachte ein weiteres Thema in die Diskussion ein, die Monarchie. Es gibt keinen globalen Diskurs mehr über die Monarchie. Die Rolle der Monarchen als Staatsorgan beschäftigt Verfassungsrechtlerinnen und -rechtler nach wie vor. Von der rechtswissenschaftlichen Forschung wenig beachtet bleiben demgegenüber die Person des Monarchen und seine Familie. Luc Heuschling zeigte dies an der Frage, ob dem Monarchen und seinen Angehörigen das Wahlrecht zukommt oder ob Grossherzog, Fürst oder König als vom Volk getrennt gedacht werden, was in ihrem Vetorecht zum Ausdruck kommt. Dass die Monarchien bei der zunehmenden Demokratisierung unterschiedliche Regelungen getroffen haben betreffend Vetorecht sowie aktives und passives Wahlrecht des Monarchen, überrascht wenig. Während Anna Gamper im einleitenden Referat die liechtensteinische Verfassung bezüglich Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit mit Verfassungen weltweit verglichen hatte, konzentrierte sich Luc Heuschling auf Staaten mit einer monarchischen Ordnung, bezog dafür jedoch die Rechtsgeschichte mit ein.

Staatsaufgabe Sicherheit
Patricia Schiess vom Liechtenstein-Institut wählte einen anderen Zugang. Sie ging von der Verpflichtung eines jeden Staates aus, Sicherheit zu gewährleisten, und prüfte, inwiefern die liechtensteinische Verfassung Sicherheit im Land garantiert und Liechtenstein durch die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols seine Souveränität behauptet. Ähnlich wie Hilmar Hoch setzte sich Patricia Schiess mit den Herausforderungen von Klein(st)staaten (Stichwort: Mangel an Ressourcen) auseinander. Während sich Liechtenstein bei der Konzeption des Staatsgerichtshofes mit der Übernahme ausländischer Rechtsnormen behelfen konnte, greift das Land vor allem bei der Prävention und zur Bewältigung von Katastrophen auf ausländische Hilfe zurück. Wie vielfältig die Staatsverträge sind, mit denen sich Liechtenstein Unterstützung zusichern lässt und seinerseits Leistungen verspricht, zeigten die von Patricia Schiess genannten Beispiele.

 

17.06.2021: 100 Jahre Verfassung – Zeit für Bilanz und Ausblick [Podiumsdiskussion]
18.06.2021: Die liechtensteinische Verfassung – Einzigartig, und doch vergleichbar [Kolloquium]
 

Die Angst vor einem erneutem 2003. Beitrag von Elias Quaderer, Liechtensteiner Vaterland, 18. Juni 2021
Der Blick der Juristen auf eine einzigartige Verfassung. Beitrag von Elias Quaderer, Liechtensteiner Vaterland, 19. Juni 2021

Liechtensteinische Verfassung: Eine Dynamisierung wäre angezeigt. Beitrag von Hansrudi Sele, Liechtensteiner Volksblatt, 18. Juni 2021
Bernhard Waldmann: «Stabilität hat auch mit Anpassung zu tun». Beitrag von Michael Wanger, Liechtensteiner Volksblatt, 19. Juni 2021
Eine Verfassung mit zwei Vorbildern. Beitrag von Michael Wanger, Liechtensteiner Volksblatt, 19. Juni 2021

 

Abbildungsnachweis: Liechtensteinisches Landesarchiv LI LA U 095.