Am 18. Oktober 2024 fand im Gemeindesaal Gamprin der II. Liechtensteinische Historikerinnen- und Historikertag statt, der auf grosses Interesse stiess. In den Vorträgen wurden historische Entwicklungen und familiäre Strukturen beleuchtet, die bis heute Relevanz haben. Die Veranstaltung richtete sich an Forscherinnen und Forscher, die sich im In- und Ausland mit der Geschichte Liechtensteins befassen, sowie an Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner, die zu historischen Themen ausserhalb des Landes forschen. Offen stand der Anlass auch allen, die sich für die Geschichtsschreibung in und über Liechtenstein interessieren. Die rege Beteiligung verdeutlichte das grosse Interesse am Historikerinnen- und Historiktertag, der dreizehn Vorträge und Gelegenheit zum Austausch bot.
Das Rahmenthema des Anlasses bildete die Geschichte der Familie. Zunächst führte Simone Derix, Professorin für Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, in ihrem Keynote-Vortrag in die aktuelle historische Familienforschung ein. Sie zeigte auf, dass entgegen älteren Ansichten die Bedeutung der Familie seit dem Mittelalter nicht ab-, sondern zugenommen hat. Gerade lokale, transnationale oder globale Verwandtschaftsnetzwerke würden nun vermehrte Aufmerksamkeit in der Forschung erhalten. Folgen staatlicher Ehe- und Familienpolitik Mehrere Vorträge zeigten, welche Folgen eine rigide obrigkeitlich-staatliche Ehe- und Familienpolitik nach sich ziehen konnte.
Katharina Arnegger berichtete aufgrund der liechtensteinischen Verhörtagsprotokolle des 17. und 18. Jahrhunderts über die gerichtliche Beurteilung und Bestrafung ausser- und vorehelicher Sexualbeziehungen sowie unehelicher Geburten und Kindstötungen. Peter Geiger schilderte den Fall eines noch 1938 vom Gemeinderat Triesenberg und von der Regierung wegen Armut verhängten und auch vom Staatsgerichtshof gestützten Eheverbots, das zur unehelichen Geburt des gemeinsamen Kindes führte und die vom Paar gewollte Gründung einer Familie verhinderte. Stephan Scheuzger wies hingegen nach, dass patriarchalische familiale Ordnungsvorstellungen in Liechtenstein im 19. und frühen 20. Jahrhundert bei Unterstützungsentscheiden des staatlichen Armenwesens wider Erwarten und trotz der im Land verbreiteten und tief verankerten katholisch-konservativen Familien- und Sexualmoral keine Rolle spielten. Lukas Ospelt zeichnete die historische Entwicklung des gesetzlichen Gewaltverbots unter Eheleuten nach, das bis 2000/2001 nur unzureichend vor häuslicher Gewalt schützte, und regte dessen ausdrückliche Verankerung im liechtensteinischen Ehegesetz an. Einen originellen Zugang zum Familienrecht fand Emanuel Schädler, indem er die Möglichkeiten tiefenpsychologischer Ansätze zu einem besseren Verständnis der Verfasser von Gesetzestexten und damit der Gesetze selbst aufzeigte.
Herausforderungen in der Familienforschung
Das Verhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit, Quellenzugang und Datenschutzgesetzgebung stellt gerade auch die zeitgeschichtlich arbeitende Familienforschung vor Herausforderungen, etwa mit Blick auf Schutz- und Sperrfristen. Landesarchivarin Nathalie Lorenz zeigte Lösungsansätze auf, auch im Licht des neuen Archivgesetzes, das sich derzeit in parlamentarischer Beratung befindet. Ein umfassendes genealogisches Projekt stellte Benjamin Fischer mit der «Familienchronik der liechtensteinischen Gemeinden» vor, die voraussichtlich ab Ende 2024 online nutzbar sein wird. Rupert Tiefenthaler behandelte anhand des Nachlasses des Komponisten Josef Gabriel Rheinberger die Frage, wie die Überlieferung der Quellen durch die Familie das Bild einer Person in der Nachwelt beeinflusst.
Martina Sochin D’Elia verwies in ihrem Vortrag zum «Bild des werdenden Kindes» auf den Umstand, dass die in den 1970er-Jahren in der Gynäkologie aufgekommene Ultraschalltechnik die Wahrnehmung des werdenden Kindes als Teil der Familie beeinflusste – auch im Fall tot geborener Kinder. Sie schlug den Bogen von den im späten 19. Jahrhundert verbreiteten Post-mortem-Aufnahmen bis zur aktuellen Praxis der Sternenkindfotografie. Sina Thöny stellte ihre Masterarbeit vor, die sich mit Adoptionsnetzwerken zwischen der Schweiz, den USA und Saudi-Arabien in den 1950er- und 1960er-Jahren befasst. Im Zentrum stand die kritische Auseinandersetzung mit den Praktiken der von der Ostschweiz aus tätigen Vermittlerin Alice Honegger.
Erweiterte Perspektiven – und Fortsetzung 2026
Ausserhalb des Tagungsthemas präsentierten zwei weitere junge Historikerinnen ihre Masterarbeiten. Chiara Jehle zeigte, mit welchen Werbestrategien die Firma Hero nach dem Zweiten Weltkrieg der Konservendose nun auch im zivilen Bereich zum Durchbruch verhalf. Annika Hilti zeichnete das Entstehen des Tourismus in Liechtenstein in der Zeit um 1870 und dessen weitere Entwicklung bis in die 1940er-Jahre nach.
Auch neben den Vorträgen tauschten sich die rund fünfzig Anwesenden rege zu Aspekten der Geschichtsschreibung in und über Liechtenstein aus. Die zweite Durchführung des Anlasses ist von allen Beteiligten sehr positiv beurteilt worden, sodass im Herbst 2026 die Reihe der liechtensteinischen Historikerinnen- und Historikertage fortgesetzt werden wird.