Kulturgeschichte geht aufs Ganze

08.04.2019 - Gastkommentar (5)
Gastbeitrag von Jürgen Schremser │Den Begriff „Kulturgeschichte“ verstehe ich in Bezug auf die Geschichtswissenschaften nicht als Bezeichnung einer Spezialdisziplin neben Politik-, Sozial- oder etwa Technikgeschichte. Kulturgeschichte unterstreicht vielmehr den Anspruch und den Versuch einer historischen Forschung, vergangene menschliche Lebenswirklichkeiten übergreifend, in all ihren materiellen, sozialen und geistigen Komponenten für uns nachvollziehbar und verständlich zu machen.
Um beispielsweise die kulturelle Ordnung der athenischen Demokratie zu verstehen, sind ihre ökonomische Grundlage in der antiken Sklavenhaltung und der Ausschluss von Frauen aus der Versammlung freier Bürger ebenso bedeutsam wie die Staats- und Tugendlehre des griechischen Philosophen Aristoteles. Wenden wir uns der jüngeren Demokratiegeschichte in Liechtenstein zu, sollte neben den massgeblichen Verfassungstexten und den darauf begründeten Institutionen auch die dörfliche und männerdominierte demokratische Praxis berücksichtigt werden. Eine grosse, zusammenhängende Kulturgeschichte der selbstbeschränkten Volkssouveränität in Liechtenstein steht zwar noch aus. Doch beleuchten Einzelstudien – zum Revolutionsjahr 1848, über den Umgang mit Hintersassen im 19. und zur Diskriminierung von Frauen im 20. Jahrhundert – wichtige Aspekte eines abstammungs-, besitz- und geschlechtsbezogenen demokratischen Brauchtums.
  

Untertanen- und Bauernland
Dass es sich beim besonderen Verständnis von Mitbestimmung in Liechtenstein um ein zählebiges kulturelles Phänomen handelt, zeigt sich auch daran, dass die Dokumentation des politischen Lebens im Ausstellungskonzept des Landesmuseums unter die Rubrik „herrschen“ fällt. Zentrales Thema sind „adelige Herrschaft und bäuerliche Untertänigkeit“. Tatsächlich kann eine kulturgeschichtliche Forschung mit Gewinn von Gewichtungen und Erzählungen in der Gegenwartsgesellschaft ausgehen, um in den Quellen weit zurückreichende Grundmuster im Denken, Handeln und Empfinden aufzuspüren. Manches drängt sich auf, wie eben die unabgeschlossene Geschichte der politischen Machtverhältnisse. Offenkundig untersuchenswert scheint mir das ganze kulturelle Gefüge der für Liechtensteins Geschichte bestimmenden bäuerlichen Gesellschaft. Von der Zeit der mehrheitlich betriebenen Landwirtschaft bis zu ihrem Nachleben als eine in Mundarttexten beschworene Dorfidylle. Einerseits ist die agrarische Lebensform in ihren Besitz- und Rechtsverhältnissen, in ihrer Ökonomie und politisch-kommunalen Verfassung seit längerem Thema und erforscht. Gemessen an ihrer langen Dauer fehlen jedoch breitere Einblicke in die Art der sozialen Beziehungen, in Welt- und Selbstverständnisse, in Religiosität und Naturauffassungen. Welche Wissensquellen und Möglichkeiten der Welterfahrung gab es jenseits von Christenlehre und Lesebuch? Wie wirkten die Bindung an Bodenbesitz und -bewirtschaftung in die Jahre des kapitalgetriebenen Bodenhandels; was bedeutete das alltägliche Zusammenleben und -arbeiten mit Nutztieren?

 

Selbstkritik der historischen Disziplin
Weitere kulturgeschichtliche Stränge betreffen jene Stereotype und Vorurteile, mit denen die lokale Bevölkerung eine kulturelle Innen-Aussen-Grenze, ein Urteil über Zugehörigkeit oder aber Fremdheit gegenüber dem vertrauten Wir getroffen hat. Für die Gemeinschaftsbildung relevante Rituale und Abgrenzungen wären im Zusammenspiel mit politischen Wir-Behauptungen und Feindbildern zu beschreiben. Dies betrifft auch die Skala der alltagssprachlichen bis hetzerischen Ausprägungen des Antisemitismus im Liechtenstein des vergangenen Jahrhunderts: vom „Jod“ als Synonym des Geldschneiders bis zum „Weltjudentum“ in der liechtensteinischen Nazizeitung „Der Umbruch“. Schliesslich bedeutet Kulturgeschichte auch selbstkritische Befassung mit der historischen Disziplin. Die liechtensteinische Geschichtsforschung war über eine lange Zeit eine Männerdomäne, in der die Politikgeschichte und Verfassungsentwicklung seit dem 19. Jahrhundert einen zentralen Stellenwert hatte. Vergleichsweise spät setzte die zeithistorische Auseinandersetzung mit den Krisen- und Kriegsjahren ein, ebenso verzögert eine Erforschung der vorpolitischen Machtverhältnisse nach Geschlecht und sozialem Milieu. Diese späte Öffnung zu anderen international üblichen Forschungsthemen ist ein kulturhistorisches Phänomen, das die liechtensteinische Geschichtsforschung mit der „zaghaften und schrittweisen Entwicklung von Demokratie und Zivilgesellschaft“ (Christoph Maria Merki) in Verbindung bringt.

 

Über den Verfasser

Mag. phil. Jürgen Schremser, Historiker, Wien/Vaduz

 

Geschichte wozu? Eine Artikelserie des Liechtenstein-Instituts 
Mit der Beitragsserie „Geschichte wozu?“ möchte das Liechtenstein-Institut die gesellschaftliche Bedeutung der Geschichte der Geschichtsforschung in ihren verschiedenen Facetten. Dieser Gastbeitrag erschien im Liechtensteiner Volksblatt vom 6. April 2019.