Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte

08.03.2019 - Gastkommentar (5)
Gastbeitrag von Julia Frick │Wer hütete in der Steinzeit das Feuer in der Höhle? Wer ernährte die Familie und Sippschaft? Sie erinnern sich bestimmt noch an die Bilder in den Geschichtsbüchern und im Museum für Urgeschichte. An die Bilder von Frauen und Kindern, die in der Höhle das Feuer schürten und Felle zusammennähten, und an die Darstellungen von starken, mutigen Männern, die Mammuts und Auerochsen jagten.
Es geht hier aber nicht um Ihre Erinnerung, sondern um die Vorstellungen, die uns geprägt haben. Bilder wie diese machen uns zum Beispiel weis, dass Menschen schon immer in Familien zusammenlebten. Sie beschreiben Männer und Frauen in fixen Geschlechterrollen, die dem im 19. Jahrhundert entstandenen bürgerlichen Familienbild entsprachen: Der Mann aktiv und für die Aussenwelt zuständig, die Frau für die Innenwelt.

Wir wissen heute, dass das skizzierte Bild der Steinzeit nicht zutrifft. Es mag sein, dass Männer aus körperlichen Gründen eher dazu fähig waren, grosse Tiere zu erlegen, nur wurden in erster Linie kleinere Wildtiere gejagt. Es brauchte vermutlich Jagdtechniken, bei denen es mehr auf die Erfahrung und Geschicklichkeit ankam. Arbeitsteilung erfolgte in der Steinzeit weniger nach Geschlecht, sondern nach Alter. Die Vorstellung der strikten Rollentrennung ist jedoch ein Klischee, das sich hartnäckig hält. Lange Zeit prägten fast ausschliesslich männliche Archäologen das Bild der Urgeschichte. Die Forscher deuteten – mit dem Familien- und Geschlechtermodell der bürgerlichen Gesellschaft im Kopf – ihre Funde aus Knochenresten und Artefakten.

Dank Forscherinnen wie zum Beispiel der Prähistorikerin und Expertin für Geschlechterrollen Linda R. Owen werden heute diese Klischees revidiert. Erkenntnisse aus der jungen Disziplin der Frauen- und Geschlechtergeschichte ermöglichen es, viele dieser Geschlechterkonstruktionen zu berichtigen. Die Geschlechtergeschichte versucht, die Entwicklung der Menschheit in allen Epochen aus einem objektiveren Blickwinkel zu erfassen.

Sie erinnern sich sicher auch an die zahlreichen Kriege und die Jahreszahlen bedeutender Ereignisse, die wir in der Schule auswendig lernen mussten. Vermutlich können Sie auch noch den einen oder anderen Kriegsherrn, König oder Staatsmann nennen. Fällt Ihnen etwas auf? Es kommen kaum weibliche Figuren vor. Kriege wurden von Männern geführt, Kontinente von Männern entdeckt, Staaten von Männern gebildet, Gesetze von Männern gemacht. Geschichte wurde von Männern geschrieben. Unser Bewusstsein ist von männlichen Helden geprägt. Das ist nicht nur so, weil es schlichtweg mehr männliche „Helden“ gab, sondern auch weil bedeutende weibliche Figuren weniger Erwähnung fanden und Aktivitäten, die dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurden, als weniger erwähnenswert galten.

So erging es zum Beispiel Olympe de Gouges. Sie erinnern sich bestimmt noch an die Französische Revolution 1789 und die Erklärung der Menschenrechte. Wussten Sie, dass diese Menschenrechte nur für die Männer galten? Wussten Sie, dass sich Frauen damals vehement dafür einsetzten, dass diese Rechte auch für sie galten? Olympe de Gouges rief in einer 25seitigen politischen Schrift dazu auf, den Frauen dieselben politischen Rechte zu gewähren. Sie bezahlte dafür mit ihrem Leben. Sie wurde geköpft.

Dank der Frauen- und Geschlechtergeschichte finden Frauen wie sie vermehrt den Weg in die Geschichtsbücher. Gender Studies ist eine Forschungsrichtung, die in Liechtenstein seit den späten 1980er Jahren praktiziert wird. Institutionen wie das Liechtenstein-Institut, der Historische Verein und das Historische Lexikon haben Forschungen von Historikerinnen zur weiblichen Arbeits-, Bildungs- und Migrationsgeschichte, zur politischen und zur Gleichstellungsgeschichte gefördert und publiziert. Seit einem Jahr baut der Verein Frauen in guter Verfassung ein Frauenarchiv auf. Quellen, die u.a. über die Entwicklung der politischen Frauenbewegung berichten, werden gesammelt, gesichtet, katalogisiert und schliesslich dem Landesarchiv als Schenkung übergeben. Ein grosser Teil dieser Quellen ginge sonst für die Nachwelt verloren.

Geschichte, also die Beschreibung dessen, wie wir gelebt haben, wie und warum wir uns so und nicht anders entwickelt haben und wer welchen Beitrag dazu leistete, prägt unser Bewusstsein. Darum sind eine objektive und differenzierende Deutung der Geschehnisse und die Erwähnung der handelnden Personen von grösster Wichtigkeit für uns Männer und Frauen von heute.

Über die Verfasserin
Julia Frick ist Historikerin und baut im Auftrag des Vereins Frauen in guter Verfassung das Frauenarchiv Liechtenstein auf.

 

Geschichte wozu? Eine Artikelserie des Liechtenstein-Instituts 
Mit der Beitragsserie „Geschichte wozu?“ möchte das Liechtenstein-Institut die gesellschaftliche Bedeutung der Geschichte der Geschichtsforschung in ihren verschiedenen Facetten. Dieser Gastbeitrag erschien im Liechtensteiner Volksblatt vom 8. März 2019.