Migrationsgeschichte

21.02.2019 - Gastkommentar (5)
Gastbeitrag von Martina Sochin D’Elia│ Migration wird als eine auf einen längerfristigen Aufenthalt hin ausgerichtete räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes definiert. Migration hat in ganz unterschiedlichen Kontexten schon immer stattgefunden – auch im Gebiet des heutigen Liechtenstein. Menschen sind abgewandert, andere sind neu hierhergekommen und haben Neues, zuvor Unbekanntes in diese Gegend gebracht.
Liechtenstein als Einwanderungsland ...
Spuren der einst im Alpenrheintal beheimateten Räter, Römer und Alamannen prägen bis heute unsere Kultur. Dies zeigt sich etwa sprachgeschichtlich in unseren Orts- und Flurnamen und unseren Dialekten. Das Christentum kam wohl noch durch die Römer in unsere Gegend und verbreitete sich dann in fränkischer Zeit. Das Nebeneinander von Romanen und Alamannen prägte zum Beispiel die Schaaner Dorfteile St. Lorenz und St. Peter, was sich bis heute in den Alpgenossenschaften Gritsch und Guschg spiegelt. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts besiedelten aus dem Oberwallis abgewanderte Walser auch unsere Region, konkret den Triesenberg, vermutlich auch Planken. Während die höheren Lagen vorher nur alpwirtschaftlich genutzt worden waren, wurden sie nun von den Walsern dauerhaft besiedelt und erschlossen. Auch die Vorfahren aller anderen heute im Land lebenden Menschen sind irgendwann zugewandert. 
  

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen im Zuge der ersten Industrialisierungsphase ausländische Fabrikanten und Fachkräfte nach Liechtenstein und trugen massgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung in dieser Zeit bei. Die zugezogenen evangelischen Fabrikarbeiter brachten eine neue Konfession ins Land. Im katholisch geprägten Liechtenstein mussten die Einheimischen erst lernen, damit umzugehen. So war es beispielsweise noch anfangs des 20. Jahrhunderts nicht vorgesehen, dass Evangelische auf den hiesigen Friedhöfen bestattet wurden. Sie mussten jenseits des Rheins in der Schweiz beerdigt werden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte eine bis dahin nicht bekannte Zuwanderung nach Liechtenstein ein. In erster Linie waren dies hochqualifizierte Fachkräfte und später dann niedrig qualifizierte Arbeitskräfte, ohne die der Aufbau der liechtensteinischen Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht möglich gewesen wäre. Mit Hilfe der Abstellung auf Grenzgängerinnen und Grenzgänger und sogenannten Saisonniers versuchte der Staat, der stetig steigenden Nachfrage auf dem ausgetrockneten liechtensteinischen Arbeitsmarkt nachzukommen und gleichzeitig in der Bevölkerung entstehende Überfremdungsängste ernst zu nehmen.

... und als Auswanderungsland
Andererseits wanderten Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner auch aus Liechtenstein aus. Bis 1843 galt ein grundsätzliches Auswanderungsverbot, auch wenn bei auswanderungswilligen Personen, die mittellos waren und deshalb von der Gemeinde versorgt werden mussten, dieses Verbot nicht allzu strikt umgesetzt wurde. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1920er Jahre wanderten rund 1‘500 Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner nach Nordamerika aus – meist aus wirtschaftlichen Gründen, weil sie hier im Land keine Zukunft mehr sahen. Mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten im Inland führten bis weit ins 20. Jahrhundert dazu, dass Liechtensteiner und Liechtensteinerinnen als Saisonniers in der Schweiz, in Deutschland oder in Frankreich arbeiteten, etwa im Baugewerbe, in der Landwirtschaft oder im Gastgewerbe. Einzelne liechtensteinischen Arbeitsmigranten zogen auch in andere europäische Länder und sogar bis nach Nordafrika.

Diskussionsbeitrag der Migrationsgeschichte
Was heute als liechtensteinische Identität verstanden wird, ist nur als Summe dessen zu verstehen, was unsere zugewanderten Vorfahren uns hinterlassen haben. Migration gehört – um es in den Worten von Klaus Bade auszudrücken – zur „Conditio humana wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod; denn der Homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet“. So lohnt sich ein Blick in die Migrationsgeschichte. Kenntnisse aus der Vergangenheit können dabei helfen, die Gegenwart zu verstehen, aktuelle Entwicklungen besser einzuordnen und die Diskussion zu versachlichen.

Über die Verfasserin 
Martina Sochin D'Elia ist Forschungsbeauftragte Geschichte am Liechtenstein-Institut. 

Geschichte wozu? Eine Artikelserie des Liechtenstein-Instituts 
Mit der Beitragsserie „Geschichte wozu?“ möchte das Liechtenstein-Institut die gesellschaftliche Bedeutung der Geschichte der Geschichtsforschung in ihren verschiedenen Facetten. Dieser Gastkommentar erschien im Liechtensteiner Volksblatt vom 21. Februar 2019. 

Migrationsgeschichte. Gastbeitrag von Martina Sochin D’Elia, Liechtensteiner Volksblatt, 21.2.2019