Liechtenstein und andere Kleinstaaten – Publikation zu wissenschaftlicher Tagung

28.09.2022 - Neue Publikation
Am 21. Oktober 2021 fand an der Universität Innsbruck das Seminar «100 Jahre Verfassung des Fürstentums Liechtenstein. Konstitutionalismus im Kleinstaat» statt. Nun liegen die schriftlichen Versionen der Referate vor. Mehrere von ihnen greifen Aspekte der direkten Demokratie, der Richterernennung und der Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Liechtenstein und anderen Staaten auf. Präsent ist auch die Frage nach ausländischen Einflüssen auf die liechtensteinische Verfassung und die gegenseitige Beeinflussung von Gerichten.

Vonseiten des Liechtenstein-Instituts haben Wilfried Marxer und Patricia Schiess einen Text zum Sammelband beigesteuert.

Wilfried Marxer widmet sich der Verknüpfung von direkter Demokratie und Monarchie in Liechtenstein. Zuerst gilt es für ihn jedoch festzuhalten, wer Fürst ist und wer das Volk, hat sich doch der Kreis der Stimmberechtigten seit 1921 vergrössert. Marxer stellt nicht nur das Zusammenspiel von Verfassung und Volksrechtegesetz dar, sondern er vergleicht die Situation von 1921 mit der aktuellen Regelung und liefert Hinweise zur Praxis. Er geht auch auf die demokratischen Rechte des Fürsten ein und stellt die je eigene Rolle und die Kompetenzen von Volk, Regierung, Landtag, Fürstenhaus und Staatsgerichtshof dar. Dass diese Akteure Kompromisse finden müssen, ist nicht ganz neu. Lesenswert ist der Text jedoch deshalb, weil er eine konzise Übersicht bietet und darauf hinweist, was in der Praxis wichtig ist und die Arbeit von Regierung und Landtag beeinflusst.

Der Beitrag von Patricia Schiess hat Liechtensteins Positionierung im europäischen Verfassungsverbund zum Gegenstand. Um die Frage beantworten zu können, ob sich Liechtenstein in das Wertesystem Europas einfügt, erfolgen Ausführungen zur Rechtsstaatlichkeit und zur Demokratie. Die von der Europäischen Kommission in den Berichten über die Rechtsstaatlichkeit verwendeten Kriterien Medienpluralismus und Medienfreiheit sind auch für Liechtenstein von Bedeutung. Sie sind – wie der Europarat schon seit Langem ausführt – wichtige Säulen der Demokratie. In Liechtenstein wurde ihnen vonseiten Rechtswissenschaft bisher wenig Beachtung geschenkt, obwohl sich das Land wegen seiner geringen Grösse bezüglich Rundfunk und Printmedien in einer besonderen Situation befindet. In der Verfassung werden die Medien mit keiner Silbe erwähnt. Umso wichtiger sind Vorgaben des EWR und Empfehlungen des Europarates. Spezifisch ist auch Liechtensteins Staatsform, die in Art. 2 LV verankerte konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage. Der Beitrag geht auf Spannungen zwischen dem Demokratieprinzip und den Kompetenzen des Landesfürsten ein. Näher analysiert werden das Sanktionsrecht (Art. 9 LV), die Richterernennung (Art. 96 LV) sowie die mit der Verfassungsreform von 2003 eingeführte Initiative auf Abschaffung der Monarchie (Art. 113 LV) und ihre Auswirkungen.

Eva Maria Belser und Géraldine Cattilaz betiteln ihren Beitrag mit „Die Verfassung Liechtensteins im Dialog: Einflüsse und Auswirkungen“. Sie fassen den Begriff der „Beeinflussung“ weiter als den Terminus „legal transplant“. Das macht die Spurensuche, welchen Weg Ideen genommen haben, nicht einfacher. Sicher ist für Belser und Catillaz, dass Abschreiben nicht schlecht ist, wenn man so von einem ausländischen Staat lernen kann. Am Beispiel der direktdemokratischen Rechte zeigen sie Unterschiede zwischen der Regelung in der Schweiz und in Liechtenstein auf. Dabei gehen sie insbesondere auf das Vorprüfungsverfahren für die Volksinitiativen ein, das Liechtenstein kennt, nicht aber die Schweiz. Eine in ihren Augen „grosszügig und frisch“ erscheinende Norm haben sie in Art. 4 Abs. 2 LV, dem Sezessionsrecht der liechtensteinischen Gemeinden, gefunden.

Anna Gamper geht in ihrem Beitrag „Constitutional transplants oder autochthones Verfassungsrecht?“ von der Frage nach der Verfassungsinnovation aus, die auf verschiedene Arten erfolgen kann, durch „constitutional transplants“ und durch autochthones (also eigenständiges) Verfassungsrecht. Vorgängig klärt sie deshalb den aus dem Begriff „legal transplant“ hervorgegangenen Begriff „constitutional transplant“. Er umfasst nicht nur Verfassungsbestimmungen, sondern auch Auslegungsmethoden, Ideen etc., die aus einer fremden Rechtsordnung übernommen worden sind. Heute stellen sich fast alle Verfassungen als Verschmelzungen von autochthonem und transplantiertem Recht dar, die Grenzen zwischen dem einen und anderen sind vielfach diffus. Nichtsdestotrotz lassen sich Themenbereiche mit tendenziell vielen autochthonen Elementen finden (z. B. Präambeln und Staatsziele) und solche mit mehr „constitutional transplants“ (z. B. Grundrechtskataloge). Abschliessend wendet sich Gamper der liechtensteinischen Verfassung zu. Dabei hebt sie zuerst die Gemeinsamkeiten mit den und unter den früheren Verfassungen hervor. Am Beispiel der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt sie, dass „constitutional transplants“ häufig Mutationen unterliegen, die autochthonen Ursprungs sind. Originäre Elemente findet Gamper insbesondere bei den durch die Verfassungsrevision von 2003 hinzugekommenen Bestimmungen.

Im Beitrag von Luc Heuschling geht es um die Themen Monarchie, Organlehre und wie neue rechtswissenschaftliche Erkenntnisse zu den Monarchien gewonnen werden können. Die entsprechenden methodischen Herausforderungen illustriert Heuschling an zwei Fragen: Ob Andorra, das sich selbst als „Principat d'Andorra“ bezeichnet, zu den Monarchien gehört und ob das Wort „Monarch“, als Organ, für ein Einzelorgan steht – so wie es der Wortteil „monos“ suggeriert. Letztere Frage stellt sich auch in Republiken bei deren Präsident. Muss auch bei ihm zwingend von einem Einzelorgan ausgegangen werden? Wie Heuschling aufzeigt, sollte bei der Bewertung von Monarchien auf die Nähe respektive Distanz zum Idealtypus der Monarchie abgestellt werden. Überdies ruft er in Erinnerung, dass in allen europäischen Monarchien das Organ Monarch ein besonderes Organ ist, das aber oft (man denke an die Gegenzeichnung) nicht alleine handelt oder wie in Liechtenstein und Luxemburg einen Stellvertreter ernennen kann. In der Folge geht Heuschling näher auf die sehr unterschiedlichen Regelungen in den Verfassungen von Schweden, Norwegen und den Niederlanden bezüglich des Erlasses von Gesetzen und von Luxemburg und Liechtenstein bezüglich der Stellvertretung ein.

Hilmar Hochs Beitrag zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Kleinstaat entspricht dem in der Zeitschrift für öffentliches Recht (ZöR) 2021, S. 1219 ff., erschienenen Text. Wer die Lektüre dieses aufschlussreichen Textes über die Entstehung und Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit und über den liechtensteinischen Staatsgerichtshof verpasst hat, kann ihn nun hier im Sammelband von Peter Bussjäger und Anna Gamper nachlesen.

Peter M. Huber beginnt seine Ausführungen unter dem Titel „Herausforderungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa“ mit Bemerkungen zur differenzierten Integration und zum Verfassungsgerichtsverbund, die auch für den EWR/EFTA-Staat Liechtenstein von Bedeutung sind. Zum Verfassungsgerichtsverbund gehört nämlich insbesondere auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In der Folge stehen aber die Durchsetzung des Unionsrechts und seine Grenzen im Vordergrund von Hubers Ausführungen.

Wie der Beitrag von Carlo Ranzoni aufzeigt, nehmen die EGMR-Richterinnen und -Richter aus Kleinstaaten eine wichtige Funktion am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Einerseits weil es sich bei ihnen um Personen handelt, die Erfahrungen als Richterinnen und Richter an Gerichten erster und zweiter Instanz gesammelt haben, und weil sie – da aus ihren Heimatstaaten nur wenige Fälle an den EGMR gelangen – vielfältig einsetzbar sind. Wie Ranzoni an Beispielen in Erinnerung ruft, haben auch Beschwerden gegen Mikrostaaten das Potenzial, zu leading cases zu werden.

Benjamin Schindler widmet sich den Kleinstaaten im Mehrebenensystem. Hierzu nimmt er einen Vergleich zwischen Liechtenstein, der Schweiz und Österreich vor. Konzentriert wird dieser auf das Verhalten der drei Staaten in dem von den Polen Autarkie, Anlehnung und Integration abgesteckte Feld. Ausgangspunkt ist für Schindler die Hypothese, dass die Idealvorstellungen davon, wie Herrschaft ausgeübt wird, die Aussenpolitik determinieren. Der Blick auf die historisch gewachsene Verwaltungs- und Justizkultur helfe besser zu verstehen, warum die Staaten unterschiedliche Wege in der europäischen Integration gewählt haben. Schindler schliesst seine Ausführungen mit dem Hinweis, die EU und der Europarat sollten Vielfalt nicht nur bezüglich Sprache und Kultur positiv bewerten, sondern auch die historisch gewachsenen, stark identitätsstiftenden Staats- und Verwaltungsstrukturen von Kleinstaaten.