Abstract
Der moderne Verfassungsstaat ist das Ergebnis einer Entwicklung (Konstitutionalismus), die bezweckt, die Machtausübung des Staates und seiner Organe umfassend in eine normative Grundordnung einzubinden, die ihrerseits auf den Grundwerten der Gewaltenteilung, der Freiheitsrechte der Individuen und der demokratischen Legitimation staatlicher Herrschaft beruht. Vor diesem Hintergrund wird einer Verfassung die Funktion zugeschrieben, den Staat und seine Organe zu konstituieren und funktionsfähig zu machen sowie eine institutionelle und materielle Ordnung vorzugeben, auf deren Fundament politische Prozesse stattfinden und Entscheide getroffen werden können. Die Erfüllung dieser Funktionen setzt eine gewisse Stabilität der Grundordnung voraus. Gleichzeitig läuft eine zu starre Grundordnung Gefahr, durch äußere Entwicklungen und gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen an Akzeptanz und Steuerungskraft einzubüßen und zu erodieren. Soll die Grundordnung auf längere Zeit Bestand haben, muss sie entwicklungsoffen bleiben. Eine kontinuierliche Anpassung der Grundordnung lässt sich entweder über eine formelle Verfassungsänderung oder über eine Verfassungsfortbildung (Verfassungswandel) erreichen. In beiden Fällen bleibt die Entwicklung in die bestehende Grundordnung eingebunden.
Die Revisionsvorschriften der einzelnen Verfassungen sehen in der Regel für Verfassungsänderungen ein gegenüber der einfachen Gesetzgebung qualifiziertes Verfahren vor, wobei die Hürden nicht überall gleich hoch gesteckt sind. In Staaten mit direktdemokratischen Initiativrechten wird die Verfassung direkt zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Die Verfassung verliert dabei zwar an mystischer Ausstrahlung, gewinnt aber an für die Wahrung der Kontinuität erforderlicher Flexibilität.
Ohne formelle Verfassungsänderung kann eine Verfassung über die rechtsschöpferische Auslegung und Konkretisierung weiterentwickelt werden. Eine solche Fortentwicklung bleibt aber in den Rahmen der bestehenden Grundordnung eingebunden. Vorausgesetzt ist einerseits, dass die einzelne Verfassungsnorm für eine solche Fortentwicklung genügend Raum lässt, und andererseits, dass die verfassungsinterpretierende Behörde bereit ist, bestehende Entscheidungs- und Wertungsspielräume zu nutzen.
Wo das Gleichgewicht zwischen Stabilität und Flexibilität zu liegen kommt, muss jeder Verfassungsstaat auf der Grundlage seiner Geschichte, der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und unter Berücksichtigung der Ausformung seiner demokratischen Strukturen und seiner gewaltenteiligen Staatsorganisation entscheiden.
Schlüsselwörter: Demokratie; Gewaltenteilung; Konstitutionalisierung; Verfassung; Verfassungsbegriff; Verfassungsfunktionen; Verfassungsstaat; Verfassungswandel
The modern constitutional state is the result of a development (constitutionalism) that aims to comprehensively integrate the exercise of power by the state and its organs into a normative basic order, which in turn is based on the fundamental values of the separation of powers, the liberties of individuals and the democratic legitimation of state authority. Against this background, the functions of constitution are considered to constitute the state and its organs and to make them functional, as well as to provide an institutional and material order based on which political processes can take place and which decisions can be made. To fulfill these functions, it requires a certain stability of the basic order. At the same time, a basic order that is too rigid runs the risk of losing acceptance and steering power as a result of external developments and changing social perceptions, and finally of eroding. If the basic order is to endure over the long term, however, it must remain open to development. Continuous adaptation of the basic order can be achieved either through a formal constitutional amendment or through a constitutional change (“Verfassungswandel”). In both cases, development remains bound to the existing basic order.
For constitutional amendments, constitutions generally require a qualified procedure compared to simple legislation, although the requirements differ. In states with direct democratic initiative rights, the constitution becomes the direct subject of political debate. In doing so, the constitution loses some of its mystical aura but gains the flexibility needed to maintain continuity.
Without a formal constitutional amendment, a constitution can be further developed through creative legal interpretation and concretization. However, such development must remain within the framework of the existing basic order. This presupposes, on the one hand, that the particular constitutional norm leaves sufficient room for further development and, on the other hand, that the authority interpreting the constitution is willing to use existing leeway in decision-making and evaluation.
Each constitutional state must decide on its own where the balance between stability and flexibility lies; based on its history, its social framework and in consideration of its democratic structures and its power-sharing state organization.