Liechtensteins Verfassung in ihrem Kontext – Neuer Sammelband zum liechtensteinischen Verfassungsrecht

30 Nov 2021 - Neue Publikation
Der hundertste Geburtstag der Verfassung bietet einen guten Anlass, verschiedene Aspekte des geltenden Verfassungsrechts einer näheren Betrachtung zuzuführen. Hilmar Hoch, Christina Neier und Patricia Schiess haben deshalb im Auftrag des Liechtenstein-Instituts Juristinnen und Juristen aus dem Land gebeten, einen Aufsatz zu einem verfassungsrechtlichen Thema zu schreiben, das ihnen aktuell erscheint.

Entstanden ist eine Sammlung von elf Beiträgen, die sich aus verschiedenen Perspektiven Liechtensteins Verfassungsrecht und der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes widmen: rechtsvergleichend, rechtshistorisch, mit Blick auf die EWR-Mitgliedschaft Liechtensteins und/oder aus einer menschenrechtlichen Perspektive. Veröffentlicht wird dieser Reigen an Aufsätzen als Band 62 der Reihe «Liechtenstein Politische Schriften».

Hinführung durch das Einleitungskapitel
Ein Einleitungskapitel der Herausgeberinnen und des Herausgebers schlägt den Bogen zwischen den elf Beiträgen. Es stellt vor allem auch für diejenigen Leserinnen und Leser, die an methodischen Fragen interessiert sind und sich einen Überblick über die bereits vorhandene Literatur sowie die Lücken in der Verfassung und in der Literatur verschaffen wollen, einen guten Einstieg dar.

Da kein einziger der Beiträge ohne einen Vergleich mit dem österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz, der schweizerischen Bundesverfassung und/oder dem deutschen Grundgesetz auskommt, sind die Texte auch für Juristinnen und Juristen aus den anderen deutschsprachigen Staaten gut zugänglich.

Der Beitrag von Peter Bussjäger ruft die verschiedenen Funktionen, die eine Verfassung erfüllen soll, in Erinnerung. Neben der Regelung des politischen Prozesses enthält die liechtensteinische Verfassung auch einen Grundrechtskatalog und nennt Staatsziele. Peter Bussjäger geht deshalb der Frage nach, ob die Verfassung die ihr zugeschriebenen Funktionen auch tatsächlich erfüllt.

Liechtensteins Einbettung in Europa und der Welt
Band 62 der LPS (Liechtenstein Politische Schriften) ist nicht der erste Sammelband zum Verfassungsrecht Liechtensteins. Neu ist hingegen die grosse Anzahl an Beiträgen, die das liechtensteinische Verfassungsrecht in den Kontext mit dem europäischen Recht stellt. Fragen zum Verfahren der Angleichung des nationalen Rechts an das EWR-Recht sprechen die Beiträge von Georges Baur und Bernd Hammermann an. Georges Baur zeigt auf, dass die Einbettung in den Wirtschaftsraum der Schweiz und in den europäischen Binnenmarkt nur zu dem Preis zu haben ist, dass das Recht des Vertragspartners auch für Liechtenstein zur Anwendung gelangt. Er analysiert deshalb die verschiedenen Formen der Rechtsübernahme. Bernd Hammermann beleuchtet das Verhältnis zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und dem EFTA-Gerichtshof im Bereich des Grundrechtsschutzes. Er stellt die Interaktion zwischen EMRK, EWR-Recht und dem liechtensteinischen Verfassungsrecht in den Vordergrund.

Auch der Beitrag von Hilmar Hoch wäre nicht denkbar ohne die EWR-Mitgliedschaft Liechtensteins. Er geht nämlich vom sogenannten EWR-Vorbehalt des Staatsgerichtshofes aus. Das heisst von der Formulierung des StGH, dass das EWR-Recht Vorrang hat vor dem Landesrecht, der Vorrang aber dort seine Grenze haben müsse, «wo Grundprinzipien und Kerngehalte der Grundrechte der Landesverfassung tangiert würden». Da der liechtensteinische Verfassungstext keine materiellen Schranken der Verfassungsänderung nennt, prüft Hilmar Hoch in seinem Beitrag, ob der StGH dadurch implizite materielle Schranken geschaffen hat.

Ebenfalls die Rechtsetzung im Blick haben der Beiträge von Goran Seferovic und Patricia Schiess zur Entwicklung des Initiativrechts und derjenige von Thomas Müller und Mirella Maria Johler zum Notstandsrecht. Sie zeigen überdies auf, dass die liechtensteinische Verfassung viele Impulse vom schweizerischen und österreichischen Recht übernommen hat, sich aber in vielen Punkten doch massiv vom Recht der Nachbarstaaten unterscheidet.

Grundrechtsschutz
Nicht fehlen dürfen in einem Buch, das sich mit Liechtensteins Verfassung beschäftigt, Ausführungen zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen Liechtensteins. Schliesslich entwickelt sich die Rechtsprechung des EGMR kontinuierlich weiter und stellen sich auch dem EuGH und dem EFTA-Gerichtshof immer wieder Fragen zum Grundrechtsschutz. Marie-Louise Gächter stellt die Frage nach der Rechtsnatur des Rechts auf Datenschutz. Christina Neier widmet sich dem Verbot der mittelbaren Diskriminierung, zu dem sich Rechtsprechung von immer mehr Gerichten in Europa findet. Jasmin Beck hingegen konzentriert sich auf die Rechtsprechung des StGH zum Erfordernis der Gleichbehandlung. Sie zeigt auf, dass es eine Wertungsfrage ist, wer und welche Sachverhalte in welchem Zeitpunkt als gleich betrachtet werden und bei welchen eine Schlechterbehandlung (noch) hingenommen wird. Sie beide bedauern es, dass Liechtensteins Verfassung keinen Katalog verbotener Diskriminierungen enthält. Ein griffiges Antidiskriminierungsrecht würde nämlich nicht nur dem und der Einzelnen dienen, sondern auch dem Staatswesen, das darauf angewiesen ist, dass sich alle seine Bürgerinnen und Bürger in gleicher Weise in den politischen Diskurs einbringen können.

Entwicklungen aufzeigend
Stärker auf das nationale Recht konzentrieren sich diejenigen Beiträge, welche sich (auch) mit verwaltungsrechtlichen Fragen beschäftigen und die historische Entwicklung miteinbeziehen. Cyrus Beck analysiert die Verwaltungskompetenzen der liechtensteinischen Regierung und der Landesverwaltung. Er erläutert die Weisungsgebundenheit und beschäftigt sich mit dem 2012 – wenn auch nicht durch die Verfassung, sondern per Gesetz – eingeführten Ministerialsystem. Im (rechts-)philosophisch inspirierten Beitrag von Emanuel Schädler werden verschiedene Aspekte des Verfassungstextes von 1921 einer vertieften Betrachtung zugeführt, wobei selbstverständlich auch die Konstitutionelle Verfassung von 1862 berücksichtigt wird und die Zukunft – beschäftigt sich doch eine der vier verschiedenen Betrachtungen mit der Generationengerechtigkeit.

Informationen zum Buch
Hilmar Hoch/Christina Neier/Patricia M. Schiess Rütimann (Hrsg.)
100 Jahre liechtensteinische Verfassung
Funktionen, Entwicklung und Verhältnis zu Europa
Liechtenstein Politische Schriften Band 62
Gamprin-Bendern 2021
ISBN 978-3-7211-1100-2
341 Seiten, CHF 55

Das Buch ist per sofort erhältlich beim Buchzentrum Liechtenstein.
www.buchzentrum.li