Folgen des Parteiaustritts von stellvertretenden Abgeordneten auf ihr Mandat

17 Mar 2022 - Studie
In der Landtags-Sitzung vom 11. März 2022 diskutierte der Landtag über die Folgen des Parteiaustritts der stellvertretenden Abgeordnete Nadine Gstöhl. Ein von Patricia Schiess und Christian Frommelt erstelltes Gutachten, auf welches in der Debatte mehrfach verwiesen wurde, ist nun öffentlich zugänglich.

Die Ausgangslage und Auftragsstellung
Nach der Landtagswahl vom 7. Februar 2021 wurde Nadine Gstöhl am 25. März 2021 als stellvertretende Abgeordnete der Freien Liste vereidigt. Im August 2021 trat Nadine Gstöhl aus der Partei Freie Liste aus. In der Folge stellte sich insbesondere die Frage, ob Nadine Gstöhl ihr Mandat als stellvertretende Abgeordnete der Freien Liste behält oder nicht und ob die Freie Liste verpflichtet wäre, sie für eine Stellvertretung vorzuschlagen.

Die Fragen wurden im Herbst 2021 mehrfach im Landtag beraten, ohne dass sich eine klare Lösung abzeichnete. Angesichts der bestehenden Rechtsunsicherheit wurde das Liechtenstein-Institut im Januar 2022 vom Parlamentsdienst gebeten, zuhanden des Landtages ein Gutachten zu den offenen Fragen zu erstellen.

Der Parlamentsdienst unterbreitete den beiden Gutachtern sieben konkrete Fragen. Sie erhielten dabei keine Einsicht in die bis dahin bereits vorliegenden juristischen Stellungnahmen. Vielmehr sollten sie ihre Meinung unabhängig von den bereits geäusserten Überlegungen des Rechtsdienstes der Regierung und der von Nadine Gstöhl beigezogenen Anwaltskanzlei ausarbeiten.

Der Inhalt des Gutachtens
Der Parteiaustritt von ordentlichen Abgeordneten führt nicht zum Mandatsverlust. Zu diesen Fällen gibt es auch Praxis aus Liechtenstein sowie internationale Rechtsprechung. Im Unterschied dazu stellte sich zu den stellvertretenden Abgeordneten die Frage zum ersten Mal. Weil es diese Institution– unseres Wissens – in keinem anderen nationalen Parlament gibt, kann nicht auf ausländische Literatur, Judikatur und Praxis zurückgegriffen werden. Die Analyse der Materialien zur Landesverfassung, zum Volksrechtegesetz sowie zur Geschäftsordnung zeigen, dass Verfassung und Gesetz ordentliche und stellvertretende Abgeordnete gleich behandeln wollen. Überdies können sich beide auf das freie Mandat berufen. Gerade dass Liechtenstein 1939 ein Abberufungsrecht für Abgeordnete einführte, dieses aber 1997 abschaffte, unterstützt die Aussage, dass stellvertretende Abgeordnete ihr Mandat nicht verlieren, wenn sie aus der Partei austreten oder ausgeschlossen werden.

Weitere Argumente für dieses Ergebnis finden sich darin, dass in Liechtenstein die Vorgaben an das Zusammenstellen der Wahllisten sehr offen sind. Es braucht keine Beziehung zur Partei, welche die Wahlvorschläge einreicht. Es braucht nicht einmal eine Partei zu sein, welche die Kandidaten nominiert. Entsprechend kann auch der Verlust der Parteimitgliedschaft kein Grund sein, das Mandat zu verlieren.

Im Übrigen gilt es daran zu erinnern, dass auch die stellvertretenden Abgeordneten gewählt worden sind, und zwar zugleich wie die ordentlichen Abgeordneten Einer Fraktion oder Wählergruppe das Recht zu geben, einen stellvertretenden Abgeordneten ersetzen zu lassen, würde den Wählerwillen missachten, insbesondere im liechtensteinischen Wahlsystem, das offene Listen kennt und bei dem es üblich ist, dass die Wählenden Kandidierende der einen Partei streichen und stattdessen Kandidatinnen und Kandidaten einer anderen Partei auf ihren Wahlzettel schreiben.

Nach Auffassung der Gutachter behält Nadine Gstöhl somit auch nach ihrem Austritt aus der Partei «Freie Liste» ihr Mandat als stellvertretende Abgeordnete. Ebenso sind die Gutachter der Meinung, dass stellvertretende Abgeordnete auch nach ihrem Parteiaustritt als Stellvertreter zu Landtagssitzungen aufgeboten werden dürfen. Eine Teilnahme von Nadine Gstöhl an der Landtagssitzung ist somit nicht verfassungswidrig. Die Antworten zu den weiteren an die Gutachter gerichteten Fragen sowie die ausführliche Begründung sind im Gutachten nachzulesen.