Sonderausgabe der LJZ zum 25-Jahr-Jubiläum des EWR

22 Apr 2020 - Neue Publikation
Die erste Nummer der Liechtensteinischen Juristenzeitung (LJZ) für das Jahr 2020 enthält diverse Beiträge zum 25-Jahr-Jubiläum von Liechtensteins Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Die Koordination dieser Sonderausgabe erfolgte durch die Stabsstelle EWR und die Redaktion der LJZ. Im Folgenden werden die Beiträge der Forschenden des Liechtenstein-Instituts kurz beschrieben.

EWR-Beschlussfassungsprozess in Recht und Praxis – Christina Neier
Seit Inkrafttreten des EWR-Abkommens für Liechtenstein wurden rund 9000 EU-Rechtsakte durch einen Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses in dessen Anhänge aufgenommen. Dieser sogenannte EWR-Übernahmeprozess findet seine rechtliche Grundlage im Hauptteil des EWR-Abkommens. Der Prozess birgt jedoch jede Menge Herausforderungen, die in der Praxis mitunter nur mit Pragmatismus zu bewältigen sind. Dies hat zur Folge, dass Recht und Praxis teils divergieren. In ihrem Beitrag erörtert Christina Neier daher sowohl den Rechtsrahmen für das Übernahmeverfahren als auch dessen praktische Umsetzung. Ziel ist schliesslich, diese komplexen Prozesse den Rechtsanwenderinnen und Rechtsanwendern in Liechtenstein näher zu bringen. In diesem Sinne wird insbesondere der zentralen Frage der Verfahrensdauer nachgegangen, Einblick in die einzelnen Verfahrensschritte ermöglicht und das Inkrafttreten und die Publikation der Übernahmebeschlüsse erörtert.

Die Durchsetzung des EU- und EWR-Beihilferechts vor nationalen Gerichten – Sarah Schirmer
Der Beitrag von Sarah Schirmer setzt sich mit dem in der EU und im EWR anwendbaren Beihilferecht auseinander und analysiert, wie Liechtenstein dieses Recht umsetzt. Diskutiert wird, ob das Durchführungsverbot im EWR, wie in der EU, direkt anwendbar ist. Der EFTA-Gerichtshof hat sich bisher noch nicht dazu geäussert. Gemäss diesem Verbot darf ein Staat keine Beihilfe gewähren, bevor die Europäische Kommission (für die EU-Mitgliedstaaten) bzw. die EFTA-Überwachungsbehörde (für die EWR/EFTA-Staaten) entschieden hat, dass die Beihilfe mit EU- bzw. EWR-Recht vereinbar ist. Der Beitrag zeigt auch auf, welche Rolle die nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Beihilferechts spielen. Zu dieser Thematik wurden im Jahr 2019 zwei Studien publiziert. Eine der Studien untersuchte die Situation im EWR, die andere betraf die EU. Der Beitrag informiert über die Ergebnisse dieser Studien und zieht Schlussfolgerungen für den EWR und Liechtenstein.

Unmittelbare Wirkung und Vorrang im EWR: Schutz einer abstrakten Souveränität der EFTA-Staaten oder konkreter Rechtsschutz für Bürger und Unternehmen? – Georges Baur
Gerichte in der Europäischen Union haben sich seit den Entscheidungen Van Gend en Loos und Costa/Enel immer wieder mit dem Thema der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts befasst. Entsprechende Fragen stellen sich natürlich auch im EWR, da diese Prinzipien des EU-Rechts zur Sicherung der Homogenität im EWR notwendig sind. Darüber hinaus werfen sie aber im EWR-Recht zusätzliche Fragen auf, weil sie mit dem besonderen intergouvernementalen Charakter des EWR schwer zu vereinbaren sind. Zudem spielt aber auch eine Rolle, dass Liechtenstein der monistischen Völkerrechtstheorie folgt, während Island und Norwegen sog. dualistische Staaten sind. Unmittelbare Wirkung und Vorrang können deshalb nicht wie in der EU wirken, sondern müssen national angewandt werden. Dies wird durch die Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs reflektiert, welche den Vorbehalt der Übertragung legislativer Kompetenzen unberührt lässt und allfällige Rechtsschutzdefizite in Kauf zu nehmen gewillt ist.

In diesem Beitrag wird auf das konkrete Ziel des Abkommens hingewiesen, welches Bürgern und Unternehmen einen direkten Zugang zum Recht gewährt. Dieses überwiegt nach der Meinung des Autors den abstrakten Souveränitätsvorbehalt. Aus diesem Grund folgt bei Verletzung dieser Rechte eine konsequente und spürbare Staatshaftung. Andernfalls müsste der Vorrang von EWR-Recht festgestellt und gegebenenfalls dessen unmittelbare Wirkung anerkannt werden.

Ist die EWR-Mitgliedschaft ein Souveränitätsgewinn? Über ein Narrativ und dessen aktuelle Bedeutung – Christian Frommelt
Der Beitrag von Christian Frommelt zeigt auf, dass in der Wissenschaft zwar kein klares Begriffsverständnis von Souveränität besteht, der Begriff in der Analyse der Einstellung der Bürgerinnen und Bürger eines Staates zur Europäischen Integration aber weiterhin eine zentrale Rolle spielt. Die Mehrheit der Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner sieht dabei in der EWR-Mitgliedschaft eine Stärkung der Souveränität Liechtensteins. Als mögliche Gründe hierfür gelten die gestärkte internationale Anerkennung der Souveränität Liechtensteins im Zuge des EWR-Beitritts, der gleichberechtigte Zugang Liechtensteins zu den EFTA-Institutionen sowie der rechtlich abgesicherte Zugang zum EU-Binnenmarkt. Das Narrativ des Souveränitätsgewinns speist sich ferner aus der durch die EWR-Mitgliedschaft erfolgten Verringerung der Abhängigkeit Liechtensteins von der Schweiz sowie dem durch die EWR-Mitgliedschaft erfolgten Ausbau der liechtensteinischen Rechtsordnung und Verwaltungskapazität. Andererseits erfolgten mit der EWR-Mitgliedschaft auch zahlreiche Einschränkungen der operationellen Souveränität Liechtensteins, welche sich insbesondere in der Verpflichtung zur dynamischen Übernahme des EWR-relevanten EU-Rechts manifestieren, ohne dass die EWR/EFTA-Staaten beim Erlass dieser Rechtsakte über ein Mitentscheidungsrecht verfügen. Damit bleibt die wissenschaftliche Bewertung des Narrativs der EWR-Mitgliedschaft als Souveränitätsgewinn ambivalent. Der Beitrag schliesst mit einem kritischen Ausblick auf die Zukunft des EWR und zeigt, welche Rolle dabei die Auseinandersetzung mit dem Souveränitätsbegriff spielen könnte.