Sonderausgabe der Zeitschrift Europarecht zum 25-Jahr-Jubiläum des EWR
Chancen und Grenzen des «decision shaping»
Der Beitrag von Georges Baur setzt sich mit den Chancen und Grenzen des «decision shaping» auseinander. Der Schutz der Beschlussfassungsautonomie der EU beschränkt die Teilnahme der EWR/EFTA-Staaten am Rechtsetzungsverfahren der EU auf die vorbereitende Phase, das sogenannte «decision shaping». Im vorliegenden Beitrag wird das Verständnis des «decision shaping» jedoch über das formelle Verfahren zur Übernahme von EU-Binnenmarktrecht hinaus erweitert und es wird untersucht, welchen Einfluss die EWR/EFTA-Staaten auf die Gestaltung der Rechtsakte nehmen können. So kann sich das «decision shaping» unter anderem auf die Teilnahme der EWR/EFTA-Staaten in ausführenden Gremien, wie z. B. EU-Agenturen, erstrecken. Auch zeigt der Beitrag, wie die EWR/EFTA-Staaten auf die Gestaltung der EU-Binnenmarktpolitik durch das Europäische Parlament Einfluss nehmen können.
Herausforderungen im Rahmen des EWR-Übernahmeverfahrens
EU-Rechtsakte müssen qua Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses in das EWR-Abkommen übernommen werden, um für die EWR/EFTA-Staaten Geltung zu erlangen. Im Rahmen dieser EWR-Übernahmeverfahren sehen sich die Vertragsparteien des EWR-Abkommens mit unterschiedlichen Herausforderungen sowohl rechtlicher als auch praktischer Natur konfrontiert. Christina Neier, seit April 2020 Forschungsbeauftragte Recht am Liechtenstein-Institut, kennt diese Herausforderungen aufgrund ihrer vormaligen Tätigkeit bei der Stabsstelle EWR der Liechtensteinischen Landesverwaltung nur zu gut. Im Rahmen ihres Beitrages, welchen sie zusammen mit Andrea Entner-Koch, Leiterin der Stabsstelle EWR, verfasste, zeigt sie auf, dass Schwierigkeiten zum einen aufgrund der beträchtlichen Anzahl der am EWR-Übernahmeverfahren teilnehmenden Akteure erwachsen und zum anderen vor dem Hintergrund zu sehen sind, dass die EU-Rechtsakte mit dem Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses sowohl an die institutionellen und materiell-rechtlichen Vorgaben des EWR-Abkommens als auch an die nationalen Spezifika der EWR/EFTA-Staaten angepasst werden müssen. In den letzten Jahren stellte dabei insbesondere die Übernahme von Gründungsverordnungen neuer EU-Agenturen das EWR-Abkommen auf die Probe.
Typen und Wirkungsmechanismen differenzierter Integration
Die mit dem EWR-Abkommen intendierte Schaffung eines «level playing field» zwischen den EU-Staaten einerseits und den EWR/EFTA-Staaten andererseits setzt voraus, dass innerhalb des Geltungsbereichs des EWR für alle Mitglieder die gleichen Rechtsvorschriften bestehen. Allerdings können die EWR/EFTA-Staaten und die EU-Staaten im Rahmen des Übernahmeprozesses von neuem EWR-relevantem EU-Recht in das EWR-Abkommen auch konkrete Ausnahmeregelungen festlegen. Damit ist ein in das EWR-Abkommen übernommener EU-Rechtsakt nicht länger für alle EWR-Staaten gleich verbindlich und gilt deshalb als differenziert.
In seinem Beitrag präsentiert Christian Frommelt eine an die Spezifika des EWR angepasste Typologie differenzierter Integration. Diese unterscheidet unter anderem zwischen formeller Differenzierung – also Differenzierung basierend auf einem formellen Beschluss zur Nicht- oder unvollständigen Übernahme eines EU-Rechtsaktes – und informeller Differenzierung im Zuge einer verzögerten Übernahme von neuem EU-Recht in das EWR-Abkommen. Darüber hinaus werden im Beitrag die Ursachen differenzierter Integration im EWR analysiert. Dazu zählen insbesondere unterschiedliche materielle Präferenzen und Kapazitäten. Differenzierte Integration im EWR ist aber auch das Resultat der unterschiedlichen Integrationsprinzipien von EU und EWR sowie der hohen Komplexität der Verfahren des EWR.
25 Jahre Europäischer Wirtschaftsraum
EuR – Beiheft 1 – 2020
Nomos, Baden-Baden, 2020