Liechtenstein – kein unteilbares und unveräusserliches Ganzes mehr?
Das Recht der liechtensteinischen Gemeinden, das Austrittsverfahren aus dem Staatsverband einzuleiten, wurde im Jahr 2003 auf Wunsch von Fürst Hans-Adam II. in die Verfassung aufgenommen und wird nicht selten als Sezessionsrecht bezeichnet. Wie Patricia Schiess in ihrem Beitrag ausführt, gibt diese Verfassungsbestimmung den Gemeinden allerdings keinen Anspruch darauf, das Land zu verlassen, sondern lediglich das Recht, das Verfahren einzuleiten, das zu ihrem Austritt führen kann. Für einen Austritt wäre nämlich zusätzlich die Zustimmung von Landtag, Landesfürst und – falls das Referendum ergriffen wird – auch der Stimmberechtigten ganz Liechtensteins notwendig.
In ihrer verfassungsrechtlich angelegten Untersuchung setzt die Autorin Artikel 4 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 1 der Verfassung, der im Jahr 2003 ebenfalls geändert wurde. Artikel 1 war 1921 aus der Konstitutionellen Verfassung von 1862 übernommen worden und garantierte dem Territorium die Unabhängigkeit vom Staatsoberhaupt und der Fürstlichen Familie. Sein erster Satz hatte gelautet: «Das Fürstentum Liechtenstein bildet in der Vereinigung seiner beiden Landschaften Vaduz und Schellenberg ein unteilbares und unveräusserliches Ganzes.» Dieser Satz musste bei der Verfassungsrevision weichen, damit mit dem neuen Artikel 4 Absatz 2 auf aussenpolitischer Ebene ein Zeichen gesetzt werden konnte für das Selbstbestimmungsrecht und das demokratische Prinzip. Was es für Liechtenstein bedeuten würde, wenn in einer Gemeinde tatsächlich Bestrebungen ergriffen würden, das Land zu verlassen, wurde damals nicht durchgespielt. Es ist auch heute ungewiss, weil kein Gesetz erlassen wurde, welches das Verfahren regelt.
Patricia M. Schiess Rütimann, Since 2003, no longer an indivisible and inalienable whole. The right of the Liechtenstein municipalities to initiate a secession procedure, DPCE Online, Vol 52 No 2 (2-2022), S. 939-954.
Die verschriftlichten Versionen der im Rahmen der Tagung zum Jubiläum der liechtensteinischen Verfassung gehaltenen Vorträge bilden eine eigene Abteilung